Christliche Vollkommenheit
Auszug eines Gesprächs zwischen John Wesley
und Zinzendorf vom 3. September 1741.
Z.: | Du sagst, wahre Christen seien keine armen Sünder. Das ist völlig falsch. Die besten Menschen sind bis zum Tode ganz elende Sünder. Wenn sie etwas anderes sagen, sind sie durch und durch Betrüger oder teuflisch Verführte. Unsere Brüder, die besseres lehren, hast du bekämpft. |
W.: | Ich bin in Sorge, daß sie Falsches lehren über das Ziel unseres Glaubens in diesem Leben, also über die christliche Vollkommenheit. |
Z.: | Ich erkenne keine innewohnende Vollkommenheit in diesem Leben an. Das ist der Irrtum aller Irrtümer. Allein Christus ist unsere Vollkommenheit. Wer eine innewohnende Vollkommenheit lehrt, der leugnet Christus. |
W.: | Ich aber glaube, daß Christi Geist im rechtem Christen die Vollkommenheit schafft. |
Z.: | Keineswegs. Unsere ganze Vollkommenheit liegt in Christus. Alle Vollkommenheit besteht im Vertrauen auf das Blut Christi. Die ganze christliche Vollkommenheit ist zugerechnet, nicht einwohnend. Wir sind vollkommen in Christus, in uns selbst niemals. |
W.: | Wir streiten, glaube ich, um Worte. Ist nicht jeder, der wirklich glaubt, ein Heiliger? |
Z.: | Aber ein Heiliger in Christus, nicht in sich. |
W.: | Aber lebt er nicht heilig? |
Z.: | Gewiß, er lebt heilig in allem. |
W.: | Und hat er nicht ein heiliges Herz? |
Z.: | Ganz gewiß. |
W.: | Folglich ist er doch heilig in sich. Trägt er nicht in seinem Herzen die Liebe zu Gott und zum Nächsten, ja sogar das ganze Ebenbild Gottes? |
Z.: | Ja, aber das ist die gesetzliche Heiligkeit, nicht die evangelische. Die evangelische Heiligkeit ist der Glaube. Ein Heiliger ist nicht heiliger, wenn er mehr liebt, und nicht weniger heilig, wenn er weniger liebt. |
W.: | Was? Nimmt denn der Glaubende, der in der Liebe wächst, nicht gleichfalls in der Heiligkeit zu? |
Z.: | Niemals. Vielmehr in dem Augenblick, in dem er gerechtfertigt ist, wird er auch völlig bis ins Innerste geheiligt. Demnach ist er bis zu seinem Tode weder mehr noch weniger heilig. |
W.: | Also ist ein Vater in Christus nicht heiliger als ein Kind in Christus? |
Z.: | Nein. Die ganze Heiligung und Rechtfertigung sind in demselben Augenblick da, und keine wird mehr oder weniger. |
W.: | Ich meinte, wir sollten in der Gnade wachsen! |
Z.: | Sicherlich. Aber nicht in der Heiligkeit. Sobald nämlich jemand gerechtfertigt ist, wohnen Vater, Sohn und Heiliger Geist in seinem Herzen. Und sein Herz ist in jenem Augenblick so ganz rein, wie es jemals sein wird. |
W.: | Was du gesagt hast, will ich mit Gottes Hilfe genau erwägen. |
Aufgezeichnet von John Wesley und aufgenommen von Zinzendorf
in die „Bündingische Sammlung“, also bestätigt.
Auszugsweise zitiert aus:
Mitteilungen der Studiengemeinschaft für Geschichte
des Methodismus,
1. Jahrgang 1962, Heft 1 u. 2, S. 26ff.
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